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Der Schwanenhalsritter
„Der Geierpfiff“, ein amüsantes skurriles Gedicht der
Dichterin Droste-Hülshoff, wurde für mich und meine
Klassenkameraden zum stundentötenden verhängnis-
vollen Horrorgedicht.
Als sich in den Jahren von 1946 bis 1948, nach dem 2.
Weltkrieg, akuter Lehrermangel an den Füssener Schu-
len ausbreitete, weil sich die meisten Lehrer noch in
Kriegsgefangenschaft befanden, vermisst oder gefallen
waren, griff die Schulleitung nach jedem Strohhalm,
der sich ihr anbot.
So was Ähnliches stellte uns der Direktor der ehema-
ligen Füssener Realschule eines Tages als neuen Eng-
lischlehrer vor. Ohne jede pädagogische Vorbildung
stand da ein schlaksiger Studententyp mit rundem Kopf
und einem überlangen dünnen Hals. Sein Outfit war
ein kariertes Sakko, eine abgewetzte graue Hose und
eine schon länger den langen Hals zierende Nachkriegs-
krawatte. Dieser Grünling war Dolmetscher im Haupt-
quartier der Amerikaner, gleich auf der anderen Stra-
ßenseite.
Zu den Mädchen war er höflich und charmant, man hät-
te sein Verhalten ihnen gegenüber auch als ritterlich be-
zeichnen können. Daher hatte er schon bald seinen mar-
kanten Spitznamen. Von nun an nannten wir ihn nur
noch den „Schwanenhalsritter“ und er wusste das auch.
Ausgerechnet zu mir persönlich war er alles andere als
ritterlich. Obwohl ich ein unauffälliger ruhiger Schü-
ler war und ungefähr in der Mitte des Klassenzimmers
saß, neben mir mein aufgeweckter Freund Anzenhofer,
hackte er von der ersten Stunde an dauernd auf mich
ein. Die anderen fünfunddreißig Klassenkameraden
empfanden darüber keine Schadenfreude, wie man es
oft gewohnt war, sondern waren frustriert und wurden
schon ungehalten, weil der Unterricht nicht voranging.
An einem Morgen nach der Begrüßung begann er:
„Jetzt steht einmal jeder auf, der meint, er müsse jetzt
seine Hausaufgabe vorlesen.“ Dass ich an der Reihe war,
wusste ich genau, doch links und rechts von mir erhoben
sich solidarisch noch ein paar von ihren Sitzen. Er rief:
„Alles setzen bis auf den Keller!“
Da stand ich nun mit meinem Englischaufsatz. Als ich
ihn vorgelesen hatte, bemerkte er: „Da waren fünf Feh-
ler drin, bis morgen schreibst du diesen Aufsatz fünfmal
fehlerfrei und als Strafe, noch dazu, lernst du zwei Stro-
phen von folgendem Gedicht.“ Er blätterte aufgeregt im
Deutschbuch hin und her und auf einmal stach er mit
seinem langen dünnen Finger auf ein langes Gedicht, es
hatte ungefähr sechsundzwanzig Strophen und mit der
englischen Sprache überhaupt nichts zu tun. Dieses Ge-
dicht hieß „Der Geierpfiff“ von Anette Droste-Hülshoff.
Die erste Strophe sitzt bis heute noch wie eingebrannt
in meinem Gedächtnis und ich kann sie jederzeit ohne
Vorlage aufsagen.