Seite 58 - Bruggbeckle

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Gesicht bekommen, zum Glück kam es dann aber an-
ders. Denn als der Anze nach dem Geierpfiff die Flug-
bahn berechnete, irrte er sich in der Ballistik und der
Tintenstrahl schoss direkt an die Decke des Klassenzim-
mers. Ein riesiger Tintenfleck breitete sich an der kalk-
weißen Decke aus. Helle Aufregung im Klassenzimmer,
der Hausmeister und der Direktor wurden alarmiert
und wir beide wurden ins Direktorat zitiert. Hier ver-
hörte uns der gütige Direktor Gschwend, er konfiszierte
die Spritze und ließ sie in seiner Schreibtischschublade
verschwinden.
Jetzt verschwiegen wir auch nicht, dass wir mit dem Un-
terricht nicht mehr einverstanden waren und ich sagte,
dass ich ständig von diesem Lehrer schikaniert würde.
Scheinbar war dem Direktor schon etwas zu Ohren ge-
kommen, denn mit einer förmlichen Verwarnung und
der Entrichtung von fünf Mark ließ er uns ziehen.
Der Tintenfleck war noch lange sichtbar, aber endlich
war eine spürbare Besserung im Unterricht zu bemer-
ken. Der Geierpfiff wurde fast nebensächlich und Eng-
lisch wieder zur Hauptsache.
Wie gesagt, wir hatten noch großes Glück gehabt, denn
wenn wir unseren Schwanenhalsritter mit dem Tinten-
strahl voll erwischt hätten, hätte es wohl unabsehbare
Folgen nach sich gezogen.
Trotzdem, der Psychoterror hörte nicht auf. Jeden
Tag musste ich an die große Tafel und englische Sätze
schreiben, schlich sich dann einmal ein Fehler ein, hörte
ich schon das unmissverständliche Murmeln der ande-
ren Schüler. Eines Tages ging der Lehrer gar so weit,
dass er mir wegen eines Fehlers fünf weitere Strophen
des Geierpfiffs als Strafe aufgab. Jetzt war das Maß voll,
ich ging ganz ruhig zu meiner Bank, klappte das Eng-
lischbuch und die Vokabelhefte zu, steckte alles in meine
Schultasche und verließ grußlos das Schulzimmer.
Weil dieser Lehrer aus mir ja nicht den Klassenbesten
machen, sondern nur seinen persönlichen Frust abre-
agieren wollte, fasste ich spontan den Entschluss, Bäcker
zu werden.
Als ich dann daheim meine Mutter einweihte, der Vater
war schon 1939 im Polenfeldzug gefallen, war sie nicht
einmal abgeneigt, und mein Großvater, der täglich zum
Mittagessen kam, meinte: „Da hast du recht, wenn näm-
lich ein Bäcker verhungert, dann ist er selber schuld.“
Durch diese positiven Meinungen bestärkt, ging ich am
anderen Tag, es war im Mai 1948, ins Direktorzimmer.
Der Herr Direktor Gschwend, ein älterer liebenswürdi-
ger Herr, hörte sich meinen Wunsch an und sein Ge-
sicht färbte sich wohlwollend, er roch förmlich schon die
frischgebackenen Semmeln und meinte: „Ja, da hast du
ganz recht, ein guter Bäcker ist genauso wichtig wie ein
Abiturient.“ Nach diesen aufbauenden Worten übergab
er mir die Entlassungspapiere und wünschte mir noch
viel Glück und Erfolg in diesem Beruf.
Nach dieser Verabschiedung ging ich schnurstracks aus
dem Schulhaus und drehte mich nicht mehr um. Gleich
darauf stellte ich mich in einer Füssener Bäckerei vor,
wo ich sofort eingestellt wurde.
Meine Mutter hielt sich aus allem heraus und meinte:
„Wie schaut denn das aus, wenn immer die Mutter hin-
terherläuft, ihr müsst jetzt schon selbständig handeln.“
Und so wagte ich ganz selbständig den Sprung ins harte
Berufsleben und es kam mir vor, als hüpfte ich aus einer
Regenpfütze mitten in den Atlantischen Ozean.
Diese Begebenheit ist heute längst vergessen und verzie-
hen. Unser Schwanenhalsritter, wenn er noch irgendwo
lebt, muss jetzt ein älterer Herr sein, aber ich möchte
diese amüsante Geschichte doch in meinen Memoiren
erzählen, weil ich finde, dass sie einfach dazugehört.