Seite 46 - Bruggbeckle

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derart hoch, dass es keiner mehr bis zum Telefon schaffte, wir bekamen keine
Luft mehr und schlossen bereits mit dem Leben ab. Doch als der Höhepunkt
erreicht war, ließ das Fieber nach und wir gehörten wieder zu den Lebenden.
Wenn man dem Tod so oft ins Auge sieht, kommt er einem vor wie ein alter
Freund, und wenn man dann noch Gott als Vater hat, kann man sich ganz
gelöst in seinem Lehnstuhl zurücklehnen. Mit einundvierzig ist man natürlich
noch nicht alt, aber man versucht mit Worten zu überbrücken, was man mit
den Händen nicht mehr schafft. Das merken natürlich die Jüngeren und be-
kommen Oberhand, was man ja nicht verhindern soll oder sogar einschränken.
Die Jugend hat jetzt das Vorrecht und muss schließlich in Zukunft weiterma-
chen.
Die Zeit wurde schnelllebiger, die Ansprüche der Kunden wurden höher und
extravaganter. Statt zwei Sorten Semmeln werden jetzt fünfzehn Sorten ange-
boten. Statt dem regulären Mischbrot (Schwarzbrot) gibt es jetzt zehn verschie-
dene Sorten. Eine fast unüberschaubare Auswahl an Sahne- und Cremetorten,
an Feingebäck und Süßwaren beherrscht jetzt die lange Ladentheke. Neue Ma-
schinen kommen zum Einsatz und selber ist man das große Mühlrad, das alles
antreibt. Man kann sich außer dem Beruf fast nichts mehr vornehmen und fällt abends todmüde ins Bett. So hat
man sich das alles nicht vorgestellt, sucht nach einem Ausweg und findet keinen. Die tägliche Einnahme wird nach-
lässig in einen Schuhkarton gelegt, keine Freude, kein Aufschrei, nur noch der Gedanke, wie bringe ich den nächsten
Tag einigermaßen fehlerlos über die Bühne.
Es kommt einem wie ein Wunder vor, dass man diesen ständigen Stress noch jahrelang mit Gleichmut und Humor
durchhält. Nach der Weihnachtsbäckerei folgt gleich darauf wieder die Osterbäckerei und so vergehen die Jahre
wie im Flug.
Dann auf einmal, mit fünfundfünfzig, kommt wieder so ein verdammter Knackpunkt. Jetzt versucht man, die gan-
ze betriebliche Last mit großzügigen Zugeständnissen auf einen jüngeren Mitarbeiter zu übertragen. Doch diese
winken sofort ab, bloß keine Verantwortung, lieber Lohnempfänger und genau nach der Uhrzeit, das sei ihnen viel
lieber.
Da wir keine Kinder hatten, kämmten wir die ganze Verwandtschaft durch. Meine zwei Neffen erschraken sichtlich,
als ich ihnen prophezeite, dass bei diesem Beruf die Nacht um drei Uhr morgens vorbei ist. Das würden sie unmög-
lich aushalten, war die Antwort.
Mit der Zeit wurden unsere Wehwehchen immer größer und ließen sich fast nicht mehr überspielen, das ganze
Knochengerüst schmerzte und die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Man probiert, die ganze Situation mit
Alkohol und Beruhigungstabletten zu überbrücken, doch das ist die allerschlechteste Lösung, wie wir bald darauf
feststellten. So einigten wir uns, meine Frau und ich, das Geschäft aufzulösen und einen Rentenantrag zu stellen.