Seite 71 - Bruggbeckle

Basic HTML-Version

70
Unser Vetter fällt aus dem Rah
men
Der Vetter war ein Original, wie es seinesgleichen wohl
nie mehr geben wird. Er war groß und hager und hat-
te an der Oberlippe einen Zwirbel- und am Kinn einen
Spitzbart. Er war weit verwandt und wohnte in Füssen in
der Unteren Spitalgasse, ganz nah beim Lech, in einer
bescheidenen Zweizimmerwohnung. Sein Name war Jo-
sef Wolf und von hinten
Fesoj Flow
, wie er schelmisch
sagte. Von Beruf war er Bäcker und er konnte meister-
haft aus seinem Leben erzählen, daher ist mir noch heute
vieles in Erinnerung.
Zum Beispiel, wie er einmal am Lechufer entlang seinen
Abendspaziergang machte, hin zur Schelmengrube, wo
heute die König-Ludwig-Brücke über den Lech führt,
und der Lech ein Becken bildete, wo sich das Wasser in
großen Strudeln vorwärtswälzte. Eine Füssener Frau,
die am Ufer nach Beeren suchte, machte einen Fehltritt,
rutschte die Böschung hinunter und verschwand in dem
reißenden Strudel.
Der Vetter kam kurz darauf an die Stelle und sah, dass
sich eine dunkelblaue Kittelschürze im Kreise drehte. Als
jetzt noch eine Hand aus dem Wasser kam, zögerte er
keine Sekunde. Als guter Schwimmer riss er sofort seine
Schuhe herunter und sprang in den eiskalten, spiralför-
migen Wasserstrudel. Er ergriff eine Hand der bereits
bewusstlosen Frau und zog sie unter äußerster Kraftan-
strengung auf eine weiter unten gelegene Kiesbank. Dort
drückte er ihr das Wasser aus der Lunge und machte
auf der groben Kiesbank
laienhafte
Wiederbele-
bungsversuche. Auf ein-
mal tat sie einen tie-
fen Atemzug und
schlug die Augen auf.
Wenn man jetztannimmt, jetzt
kommt die altbekannte Szene,
Gerettete fällt Retter um den Hals und so weiter - nein,
nicht so in diesem Fall: Als sie sich nämlich umschaute,
fuhr sie ihn barsch an, warum er denn nicht auch ihre
neuen Pantoffeln, das rote Kopftuch und das halb gefüll-
te Beerenkörbchen an Land gezogen habe! Der Vetter
konnte momentan nichts dazu sagen, da verließ sie tropf-
nass und schimpfend die Kiesbank in Richtung Füssen.
Da der Vetter sehr mitteilsam war, blieb diese Rettungs-
aktion nicht geheim und drang bis zur Staatskanzlei nach
München. Von dort bekam er nämlich eine Einladung,
und als er mit anderen Lebensrettern vom Prinzregent
Luitpold persönlich die Lebensrettungsmedaille in Silber
ans Revers gesteckt bekam und dazu noch ein kleines
Geldgeschenk in einem Umschlag, da war er doch sehr
stolz und trug die Auszeichnung fortan an seinem Sonn-
tagsanzug.
Ich kannte den Vetter nur als alten Mann und Rentner,
doch wenn er nach Lechbruck kam, gab es ein großes