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Morgenrot in der Säuling-Südwand
Wenn damals im Jahre 1950 zwei Bäckerlehrlinge
träumten, dann war es von den arbeitsfreien Stunden
am Sonntag.
Mein Kollege Ernst und ich arbeiteten in einer Füsse-
ner Bäckerei, um das Bäckerhandwerk zu erlernen. Am
Sonntag streiften wir gerne durch die Vorberge und
erkundeten dabei den Kalvarienberg, den Schwarzen-
berg, den Kienberg und das Faulenbacher Tal.
Eines Tages führte uns der Weg über die Tiroler Gren-
ze bis unterhalb des Pilgerschrofens. Da war es um uns
geschehen. Zum ersten Mal sahen wir die Südseite des
Säulings und die steil aufragende Felswand. Schon lange
war uns das Umherwandern zu wenig aufregend, da be-
schlossen wir, das Felsklettern zu üben.
Wir kauften uns vom angesparten Geld ein schönes fünf-
zig Meter langes Perlon-Bergseil und die dazugehörigen
Eisenhaken mit Karabinern. Nach einigen Übungssonn-
tagen am Schwarzenberg wollten wir unseren Wunsch-
traum, die Südwand des Säulings zu durchklettern, in
die Tat umsetzen.
Am Samstagnachmittag um 16 Uhr waren wir meistens
in der Backstube fertig. Wir hatten alle Maschinen und
Geräte gereinigt, den Fußboden sauber geschrubbt und
aufgetrocknet. Jetzt fragten wir den Meister, ob wir noch
eine Wegzehrung mitnehmen dürften, da wir eine Berg-
wanderung geplant hätten. Er nickte, doch als er sah,
dass wir eine ganze Schaufel Zucker in die Tüte schüt-
teten und ein ganzes Pfund Margarine in den Rucksack
warfen und dann noch zehn Eier, einen Kipf Brot, Salz
und ein Glas Marmelade, war es ihm nicht mehr so frei-
gebig zumute und er meinte: „Öh, öh, das reicht jetzt
doch.“
Der Rucksack war schwer, und die zwei Schlafsäcke, das
Bergseil, die Eisenhaken und die Verpflegung ließen sich
nur durch ständiges Abwechseln transportieren. Wir
gingen von der Ziegelwies den Alpenrosenweg entlang
und dann hinter dem Alpsee hinauf in Richtung Pilger-
schrofen. Schon lange hatten wir auf der Tiroler Seite
eine Heuhütte auskundschaftet, in der wir übernachten
wollten.
Der Sommer war vorbei und es wurde recht bald
stockdunkel und nur durch unseren guten Orien-
tierungssinn erreichten wir die Heuhütte so gegen
20 Uhr. Wir krochen gleich in unsere Schlafsäcke und
kuschelten uns ins Heu. Doch kaum waren wir einge-
schlafen, röhrte ganz nah an unserer Hütte ein liebestol-
ler Hirsch. Immer wieder wiederholte er seinen Brunft-
schrei und an Einschlafen war nicht zu denken. Jetzt
wurde der Ernst wütend, er stieg aus seinem Schlafsack,
nahm einen alten Heinzen von der Hütte und wollte
den Ruhestörer durch lautes Schreien und Pfeifen in die
Flucht schlagen, doch der große Hirsch rührte sich nicht.
Jetzt schlich Ernst mit seinem Heinzen ganz nahe an ihn