Seite 91 - Bruggbeckle

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Der
Lebenspilz
Unsere Mutter schärfte uns Kindern immer wieder ein:
Bückt euch nie nach einem Pilz, das kann sich lebens-
verlängernd auswirken.
Wir haben das bisher auch be-
folgt, und genauso wenig wie uns ein Haifisch ins Jen-
seits holt, bringt uns ein giftiger Pilz dorthin.
Trotzdem ist ein Steinpilzgericht meine Leibspeise. Also
war es schon lange mein Traum, einmal im Leben in
freier Natur einen Steinpilz anzutreffen. Doch wenn
man kein Pilzsammler ist, muss man schon fünfundfünf-
zig Jahre alt werden, bis dieses Ereignis zufällig einmal
eintrifft.
Meine Frau und ich machten im Urlaub ausgiebige
Wanderungen in den herrlichen Wäldern von Südtirol.
Auf einem bewaldeten Höhenzug in Obereggen, mitten
auf einem Waldweg, ein herrlicher Steinpilz! Er hatte
eine makellose dunkelbraune Samtkappe, einen rein-
weißen unbeschädigten Stiel und könnte im Pilzbuch
nicht schöner abgebildet werden.
Das ist jetzt mein ‚Lebenspilz‘
, sagte ich zu meiner
Frau.
So einen Steinpilz habe ich noch nie gesehen und
werde wahrscheinlich auch danach nie mehr so einen
herrlichen Pilz finden.
Meine Frau meinte, ich solle ihn
stehen lassen, bei einem Pilz lohne sich der Aufwand des
Zubereitens nicht. Das sah ich ein und wir betrachteten
ihn noch eine Weile.
Jetzt kam zufällig ein behindertes Mädchen des Weges,
das Pilze sammelte. Wir riefen sie heran und sie machte
dann kurzen Prozess und ließ meinen Lebenspilz in ih-
rem Körbchen verschwinden.
Im Vinschgau, wo Südtirol an die Schweiz angrenzt, hat
sich in den höheren Lagen wieder Steinwild eingebür-
gert. Dieses Steinwild ist mit den Bergziegen verwandt
und war schon kurz vor der Ausrottung, daher ist es
streng geschützt. Doch jeder Schweizer und Südtiroler
Jäger hat den Ehrgeiz, einmal in seinem Leben einen
Steinbock abzuschießen. Daher ist die Warteliste lang,
und so kommt ein Jäger nur ungefähr alle fünfzehn Jah-
re zum Abschuss.
Ein Bankdirektor und passionierter Jäger erzählte uns
bei einem Glas Roten, dass er bereits fünf Jahre Warte-
zeit hinter sich habe und nur noch zehn Jahre vor sich,
bis er sich seinen Lebenstraum verwirklichen könne.
Jetzt muss man wissen, dass, im Gegensatz zum Rot-
wild und zum Gamswild, das Steinwild überhaupt keine
Scheu vor dem Menschen hat. Gerät man im Hochge-
birge in ein Steinwildrudel und setzt sich auf einen Stein
zum Ausruhen, dann tollen die jungen Steinböcklein
um einen herum, als wäre man einer von ihnen. Es wäre
also keine Kunst, jetzt aus ein paar Metern Entfernung
den Bock oder die Ziege zu erlegen.
Daher muss man die Steinwildjagd streng waidmän-
nisch angehen und nur die alten Tiere, die sich abgeson-
dert haben, aussuchen.
Die zehn Jahre sind jetzt schon längst vorbei, ob er noch
zum Abschuss seines
Lebenssteinbocks
gekommen ist,
haben wir nie erfahren.
Völlig anders verlief die Sache mit dem
Lebenshirsch
“.
Auf unseren Wanderungen in den Südtiroler Bergen
trafen wir in einem abgelegenen Berggasthaus einen