Seite 92 - Bruggbeckle

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bayerischen Brauerei-Besitzer mit seiner wesentlich jün-
geren Frau.
Er stellte sich als einfacher Handwerksmeister vor und
erzählte uns die Geschichte von seinem Lebenshirsch.
Die junge Frau war von der Jagd nicht sonderlich be-
geistert und hörte teilnahmslos zu. Wahrscheinlich hatte
sie diese Geschichte schon zum hundertsten Mal gehört.
In diesem kleinen Berggasthaus waren wir vier ganz
allein und bestellten eine Flasche Roten. Jetzt kam er
in Fahrt und erzählte die Geschichte nicht nur, nein, er
spielte sie voll aus.
Er stellte zwei Tische zusammen, das sollte der liegende
Baumstamm sein, meinen Wanderstock benutzte er als
Gewehr, und jetzt steigerte er sich so in sein Jagdfieber,
dass er schwitzte und zitterte. Auf den Knien rutschte
er um den Tisch herum und zielte mit dem Stock. Wir
waren die unbeteiligten Jagdbegleiter und durften beim
Abschuss nicht stören. Auf einmal der erlösende Schuss!
Jetzt sank er auf den Stuhl und war völlig erschöpft.
Dreißig Jahre hatte er schon auf diesen Abschuss ge-
wartet, und dieser wurde ihm immer wieder verweigert
oder aus anderen Gründen abgesagt, doch dieses Mal
ließ er sich von nichts und niemandem abhalten. Zwei
Tage waren er und seine Begleiter in den Tiroler Ber-
gen um Elbigenalp auf der Pirsch, man hatte ihm schon
viele tausend Mark abgenommen, und nie kam er zum
Schuss.
Doch auf einmal, hoch über ihm auf einer Lichtung,
stand auf einem Felsvorsprung ein kapitaler Zwölf­ender!
Die Begleiter wollten ihn noch vom Schuss abhalten,
doch jetzt ließ er sich nicht mehr beirren. Er entsicherte
sein Jagdgewehr, schätzte zweihundert Meter Entfer-
nung und bekam plötzlich das
Hirschfieber
, wie es
unter Jägern heißt. Der ganze Körper zittert vor Aufre-
gung und man ist zu einem gezielten Schuss nicht mehr
fähig. Jetzt stützte er sein Gewehr auf einem liegenden
Baumstamm ab und sogleich wurde es ruhig. Durch das
Zielfernrohr suchte er die Herzgegend des Hirsches und
drückte ab. Der Schuss zerriss die Waldesstille und der
Hirsch feuerte noch seine Hinterläufe in die Luft, um
einen vermeintlichen Gegner abzuwehren, aber gleich
darauf stürzte er kopfüber in die zwanzig Meter tiefe
Felsenschlucht.
Nun kämpften sich die Männer verbissen durch das
unwegsame Waldgebiet und fanden ihn in einem Bach-
bett liegend. Nach eingehender Untersuchung der Ein-
schussstelle stellten sie fest, dass der Schuss mitten durch
das Herz gegangen war.
Der Braumeister warf die Hände hoch und stieß ei-
nen Freudenschrei aus, denn das war der absolute Hö-
hepunkt seines Lebens. Es war nicht nur sein Lebens-
hirsch, sondern auch sein Lebensschuss!
Weil ein Abtransport im Ganzen nicht möglich war,
mussten sie das Tier an Ort und Stelle zerlegen und die
einzelnen Teile zur nächsten Jagdhütte transportieren.
Dieser Lebenshirsch wurde dann auf der Jagdhütte
noch ausgiebig begossen und es wurde sehr spät.
Jetzt kann natürlich nicht jeder Mensch einen Lebens-
hirsch oder Lebensbären, einen Lebenselefanten oder
Lebensbüffel erlegen.
Ganz im Gegenteil, ein Lebenskürbis oder eine selbst
gezogene große gelbe Rübe, eine große Sonnenblume
zum Beispiel, können das gleiche Erfolgserlebnis auslö-
sen, wenn man sich intensiv damit befasst. Es ist natür-
lich nicht erfolgsversprechend, wenn man dauernd so
einem Erfolgserlebnis hinterherjagt. Am besten ist es,
man lässt es auf sich zukommen, auch wenn es oft sehr
lange dauert, aber plötzlich, eines Tages, erkennt man
dann:
Das war's jetzt.